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bis 2004 Titel

September 2004                                                        

Albrecht Müller: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, München 2004 (Droemer Verlag). 

Da macht sich einer Sorgen um Deutschland. Aber nicht dass dieses Land wirtschaftliche Probleme hat, ist seine Hauptsorge, im Gegenteil, er sieht die deutsche Wirtschaft und die Infrastruktur gut in Schuss, sondern dass ein Interessenkartell von Neoliberalen, Politikern der größeren Parteien und opportunistischen Intellektuellen und Meinungsmachern den Menschen unsinnige Reformen aufzwingen wollen, einseitige Wirtschaftspolitik machen und damit den Niedergang des Landes herbeiführen. War der Begriff Reform in den 60er und 70er Jahren mit sozialem Fortschritt und mehr Demokratie wagen verbunden, so ist dieses Wort von den dominierenden Meinungskartel in sein Gegenteil verkehrt worden: Es steht für Sozialabbau und Prägung der öffentlichen Meinung durch falsches Bewusstsein (Ideologie). Hier schreibt einer gegen den Mainstream in diesem Lande an, ein Buch gegen die herrschende Meinung, die sich in ganzen Bibliotheken, in den Massenmedien und den Politikerreden breitgemacht hat.

Gestern (26.9.2004) behauptete einer dieser Manipulateure der öffentlichen Meinung, der SPD-Politiker Thierse, in einer Talkshow des Fernsehens, die fast alle von den Neoliberalen dominiert werden, die Regierung habe die Steuern gesenkt, was vor allem den unteren Einkommen zu Gute käme. Hat man das Buch von Müller gelesen, dann weiß man, dass ein Spitzenverdiener 3,1 Prozent weniger Steuern zahlen muss, ein gering Verdienender aber nur 1,3 Prozent. Wer eine Million im Jahr verdient, hat eine Entlastung von 31 000 €, der kleine Mann nur 191 €. Den frechen Lügen eines Thierse hat in der Show niemand widersprochen, weil Kontra-Meinungen in den Massenmedien kaum noch vorkommen. Die Aussage Thierses war aber nicht nur falsch, sondern auch dumm, denn er gab im gleichen Atemzug zu, dass er seine Meinung, obwohl er sie im Brustton der Überzeugung vorbrachte, „nach allem was uns die Ökonomen sagen“ bezog. Dieses Unverständnis von ökonomischen Zusammenhängen bis hin zu platten Lügen, so beklagt Müller,  hat inzwischen auch die Zunft der Wirtschaftsprofessoren erfasst (Beispiele im Buch). Gegen die monokausalen Schlüsse der Neoliberalen tritt der Autor für eine differenzierte Sicht der ökonomischen Zusammenhänge ein. So ist z.B. der Lohnfaktor heute eher eine geringe Größe bei Investitionsentscheidungen von Unternehmen, hinzu kommen die Infrastruktur, die Steuerbedingungen, das Vorhandensein einer gebildeten Arbeiterschaft, Sicherheit vor sozialen Unruhen und Kriminalität, auch die Lebensqualität und der kulturelle Reichtum spielen eine Rolle, vor allem aber hängen die Investitionsentscheidungen „von den Absatzerwartungen und der Kapazitätsauslastung“ (S. 334) ab. Die Meinungsmacher und Politiker propagieren in ihren Kampagnen aber immer nur monokausale Erklärungen, die schon allein durch diese Einseitigkeit falsch sind.

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 In einem ersten Teil „Unter dem Deckmantel der Reformen – Hintergründe und Ziele“ untersucht der Autor  die Ideologie der Neoliberalen und ihre Wirkung auf die politische Klasse in diesem Staat. Den größten  Abschnitt des Buches bildet der zweite Teil, in dem „40 Denkfehler, Mythen und Legenden“ aufgelistet, kritisiert und mit statistischem Material widerlegt werden. Dieser Teil kann als Nachschlagewerk angesehen werden, in dem die einzelnen Mythen der Neoliberalen auch isoliert herausgegriffen werden können. Im letzten 3. Teil kritisiert der Autor das „Versagen der Eliten und der Parteien“ und die neoliberale Hegemonie in der Politik und öffentlichen Meinung. Müller ist aber durchaus kein Systemveränderer, im Gegenteil, er wirft den Neoliberalen eine Systemveränderung vor, die selbst vor dem Grundgesetz nicht Halt macht, wenn z.B. die Abschaffung der Tarifautonomie gefordert wird, was gegen das Koalitionsrecht verstößt, oder wenn die Abschaffung sozialer Ausgleiche verlangt wird, was die Bestimmung der Bundesrepublik als „demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ verletzt. 

 Albrecht Müller ist Nationalökonom, war Redenschreiber des früheren Wirtschaftsministers  Schiller und Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt. Als Sozialdemokrat alter Schule tritt er für mehr Wachstum der Wirtschaft ein, das auch durch eine Verstärkung der Binnennachfrage gefördert werden müsse. Die Reformideologen setzen dagegen einseitig darauf, die „Angebotsökonomie“ zu verbessern, d.h. „allein schon die Verbesserung der so genannten Angebotsbedingungen für die Unternehmen führe zu einem neuen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ (S. 38).  Senkung von Staatsausgaben, des Lohnniveaus und der Sozialleistungen, wie es die „Reformer“ fordern, muss das Wachstum schwächen, denn ohne Vergrößerung der Binnennachfrage könne es kein nennenswertes Wachstum geben. Dem Autor kommt seine intime Kenntnis der Wirtschaftspolitik der 70er Jahre zustatten, in der noch eine „gute Balance von Förderung der Wettbewerbsfähigkeit einerseits und der Verstärkung der Binnennachfrage“ andererseits (S. 395) praktiziert wurde. In einem Vergleich mit der gegenwärtigen Politik weist Müller nach, dass damals das durchschnittliche Wachstum höher war, während mit dem Eindringen neoliberaler Ideologien in das Wirtschaftsdenken der Politiker, genannt werden Reagan, Thatcher und Kohl, das Wachstum sank. Dies trifft dann auch auf die Politik von Kanzler Schröder zu, seit Lafontaine das Kabinett verlassen hat. „Trotz aller Misserfolge beherrschen die Neoliberalen das Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge und das Denken über gesellschaftliche Ziele. Sie bestimmen nicht nur die Programmdebatte bei FDP und Union, sie haben nicht nur den Arbeitnehmerflügel der CDU und CSU entmachtet – sichtbar an der Kaltstellung eines Politikers wie Norbert Blüm -, sie bestimmen über weite Strecken auch das Denken und die programmatische Arbeit von SPD und Bündnisgrünen. Reformlüge und Reformpleite drohen zum Ruin der SPD als schlagkräftiger Partei und regierungsfähigem Machtfaktor zu werden.“ (S. 62)

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 Von den 40 Mythen, die heute verbreitet werden, sollen stellvertretend „Leistung muss sich wieder lohnen“ herausgegriffen werden. (S. 328 ff.) In diesem Abschnitt stellt Müller dar: „Seit zwanzig Jahren geht die Schere zwischen den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen einerseits und den Einkommen aus Löhnen und Gehältern andererseits auseinander.“ Obwohl viele Manager gravierende Fehler in ihrem Unternehmen gemacht haben, erhöhen sie doch ihre Einkommen. Senkung der Lohnkosten erhöht automatisch die Profite und dadurch das Vermögen der Kapitalbesitzer. Von Leistung kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Durch die Steuerpolitik wird diese Schere noch verschärft (sieh oben). Denjenigen, die tatsächlich die volkswirtschaftliche Leistung erbringen, wird dagegen das Einkommen gekürzt, wie der Autor an der statistischen Entwicklung des Realeinkommens nachweisen kann. „Die Behauptung, unser Staat habe sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einem ‚Verteilungsstaat’ entwickelt – eine Behauptung, die immer mit dem Unterton verbunden wird, die Arbeitnehmer und die ‚Faulenzer’ hätten in dieser Zeit gewonnen -, ist schlichtweg ein Märchen. Man muss den Eindruck gewinnen, dass mit der Parole, Leistung müsse sich wieder lohnen, die wirklichen Einkommensverschiebungen in Deutschland verschleiert werden sollen.

   Es wäre wohl eher angebracht, die ungerechte Einkommensverteilung und die immer weiter auseinander triftende Verteilung der Vermögen zu debattieren.“ (S. 330 f.) 

 An dieser Stelle lassen sich aber auch die Schwachstellen der Argumentation von Müller aufzeigen. In dem Kapitel „Interessen im Hintergrund“ stellt er nur einen oberflächlichen Zusammenhang her zwischen dieser Einkommensschere und der neoliberalen Politik. „Hinter den Attacken auf den Sozialstaat, auf die Tarifautonomie und die angeblich zu hohen Löhne stecken Meinungsführer aus der Wirtschaft. Sie haben Interesse an einem schwachen Kündigungsschutz, an Niedriglöhnen und geringeren Sozialleistungen. Nicht alle Unternehmer sehen das so. Aber die einflussreiche Mehrheit wohl schon.“ (S. 67)   Als guter alter Sozialdemokrat ist er am Wachstum des Kapitals interessiert, vertritt sozusagen die Gesamtinteressen dieser Wirtschaftsweise, die auch den kleinen Leuten etwas von dem Wohlstand gönnt, damit sie zufrieden mitmachen. Er will das sein, was in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einmal „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ hieß. In dieser Formel steckt das Bewusstsein, dass ein losgelassener Kapitalismus aus dem Ruder läuft und gesellschaftszerstörerisch wirkt. Müller sieht die zerstörerische Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise, aber er hält sie für heilbar. Er unterstellt seinen Gegnern, dass sie ebenfalls „Wachstum“ wollen – nur eben auf falsche Weise. Die zerstörerische Wirkung der neoliberalen Politik ist ihm die Ausnahme, nicht die Regel in dieser Ökonomie. Tatsächlich kann man die neoliberale Strategie aber nur verstehen, wenn man weiß, dass ihr der unmittelbare Profit der Unternehmen wichtiger ist als langfristiges Wachstum der gesamten Wirtschaft. Ein ökonomisches System, das auf Egoismus und Konkurrenz beruht, schränkt die Interessen ihrer Akteure nur ein, wenn ihnen eine Gegenmacht Paroli bietet. Seit dem Verfall des Sowjetimperiums und der Schwächung der hiesigen Gewerkschaften ist aber kaum noch eine nennenswerte Gegenmacht vorhanden. Spätestens seit Marx ist klar, dass ein Verfolgen von Privatinteressen nicht durch eine liebevolle invisible hand (Adam Smith) zum Allgemeinwohl führt. Auch kann eine Konjunkturpolitik á la Keynes keine Krisen verhindern und eine SPD als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus hat den Übergang in die Barbarei 1933 nicht stoppen können.  Wenn Müllers These stimmt, die Neoliberalen hätten nicht nur die Meinungsführerschaft in diesem Land erobert, sondern beherrschten auch den Regierungsapparat, dann sind Argumente gegen sie, und seien sie noch so stichhaltig, wirkungslos. Der Klassenkampf der Kapitaleigner und ihrer Charaktermasken ist zurzeit auf der Siegerstraße – egal was das gesamtgesellschaftlich für Folgen hat.

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 Der Autor führt als Erklärung für das dominierende neoliberale Denken eine Manipulation der Öffentlichkeit an. Zwar lehnt er eine Verschwörungsthese ab: „Ich selbst bin nicht der Meinung, dass es einen zentralen Planungsstab gibt, der sich diese Manipulationen generalstabsmäßig ausdenkt. Allerdings sind die Hinweise  auf dezentral agierende Personen und Einrichtungen nicht von der Hand zu weisen.“ (S. 373)  Konkret genannt wird z.B. die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“, deren Kuratoriumsvorsitzender Hans Tietmeyer ist. Zu den Neoliberalen gehören nach Auffassung von Alfred Müller neben Wirtschaftsführern auch der ehemalige Bundespräsident Herzog und ebenso der jetzige Köhler. „Was wir heute als Mainstream der Meinung wahrnehmen: die Glaubenssätze, unser Land sei krank, unser Problem sei der Reformstau und seine Lösung seien Strukturreformen, wurde meiner Meinung nach in großen Teilen strategisch ausgedacht und mit Hilfe von Öffentlichkeitsarbeit und viel Geld umgesetzt. Zu den geplanten und deshalb immer wiederkehrenden Elementen dieser Strategie gehören die Behauptungen, wir hätten ein demografisches Problem, der Generationenvertrag gelte nicht mehr, die nachwachsende Generation sei benachteiligt, die Globalisierung sei eine  völlig neue Herausforderung, alles sei neu, Wachstum sei nicht mehr möglich und so weiter.“ (64) Auch für das Mitmachen unabhängiger Meinungsmacher hat er eine Erklärung. „Die Antreiber unter den Reformern wollen die Systemänderung. Der große Rest der Meinungselite macht mit, weil Bewegung dem Zeitgefühl entspricht. Dynamik ist gefragt und nicht Reflexion darüber, wohin die Reise gehen soll und ob die Route zum Ziel führt.“ (S. 48) Und dass die Intellektuellen in dieses Konzert der Meinungsmacher unkritisch einstimmen, erklärt er aus der Schwäche dieser Gruppe in der Gegenwart. „Der französische Philosoph Regis Débray hat analysiert, wie der zurzeit gängige Typus des Intellektuellen den Mainstream der öffentlichen Debatte nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern ihn im Gegenteil noch unterstützt: Seine Meinung wechselt je nach politischer Lage so, wie er es braucht, um seinen Marktwert in der Öffentlichkeit zu erhalten. Mit einem Übermaß an Worten und übertreibenden Prognosen bauscht er seine im Grunde banalen Analysen auf, um eine Substanz vorzutäuschen, die nicht vorhanden ist.“ (S. 385)  Wenn aber bereits die Intellektuellen sich den jeweiligen Trend anpassen – gleich ob dieser Trend richtig oder falsch ist - , warum sollen das nicht auch die Wirtschaftsführer, Politiker und Journalisten tun – gleich ob dieser Trend richtig oder falsch ist.

 So wahr auch im Einzelnen diese Beobachtungen von Müller sind, so können sie doch nicht erklären, warum die Neoliberalen überhaupt eine solche falsche Politik betreiben, wenn die Falschheit doch so offensichtlich ist und an Hand des Misslingens ihrer „Reformen“ für jeden Denkenden einsichtig sein müsste, zumal das Wachstum, das sie abwürgen, auch ihren Profit schmälert. Verstehen kann man dies letztlich nur aus der inneren Dynamik eines Wirtschaftssystems, das irrational und unbeherrschbar ist, weil im Aufeinanderprall der Interessen sich nicht die Vernunft durchsetzt, sondern der jeweils Stärkere. Warum soll das Kapital, wenn es die Gelegenheit hat, das Lohnniveau zu drücken, dies nicht ausnutzen? Warum soll es eine Vergrößerung der Binnennachfrage fördern, wenn es durch Exporte genügend Ausgleich hat? Zumal niedere Löhne die Wettbewerbsfähigkeit im Ausland verbessern. Unterstellt man, wie Alfred Müller dies tut, die Wirtschaft wäre dazu da, Wohlstand und gesicherte Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen, dann erweisen sich seine  Beobachtung als  Bankrotterklärung der kapitalistischen Produktionsweise. „Die Reformer sehen den Menschen nur noch als Produktionsfaktor. Kinder müssen geboren werden, weil wir sie zur Finanzierung der Renten brauchen. Kinder müssen mit fünf in die Schule, weil sie dann früher ins Arbeitsleben einsteigen und zur Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Arbeitnehmer sind Kostenfaktoren und sonst nichts. Da Kosten niedrig sein müssen, müssen auch die Löhne niedrig sein, ganz gleich, wie die Arbeitnehmer und ihre Familien damit zurechtkommen. Umwelt- und Klimaschutz sind Kostenfaktoren. Also runter damit. Die Alten sind ein Kostenfaktor. Was machen wir nur mit ihnen?“ (S. 391)  Das ist die Normalität des Kapitalismus frei von alt-sozialdemokratischen Illusionen. Der Zweck dieser Wirtschaftsweise ist eben nicht der Wohlstand der Bürger. Der Kapitalismus ist nicht heilbar.

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Datum der letzten Korrektur: 25.09.2008