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bis 2004 Titel

Beiträge des Jahres 2004

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Bodo Gassmann

 Das Daschner-Urteil

 Ein Kommentar über die Kommentare   (22.12.04)

 Die Gesellschaft hat die Tendenz, wenn es keinen Widerstand von unten gibt, den Berg abwärts zu schlittern. Beispiel dafür ist die Folterdebatte (vgl. unseren Artikel), in der wie aus heiterem Himmel plötzlich Befürworter der Folter auftreten, obwohl es bisher vorherrschende Ideologie in diesem Lande war, sich auf die Menschenrechte etwas einzubilden, ja sogar Kriege mit Menschenrechts-Argumenten zu führen. Man braucht anscheinend  wieder das polizeiliche Mittel der Folter. Der ehemalige Polizeivizepräsident von Frankfurt (Main), Daschner, gab für die Debatte den Anstoß, ob bewusst provoziert oder aus der deformation professionell seines Jobs heraus bleibt unausgemacht.

Zunächst zu den Fakten: Daschner brachte einen Kriminalbeamten dazu, einen Verdächtigen Schmerzen anzudrohen (erfüllt bereits den Tatbestand der Folter), damit dieser das Versteck eines kleinen Jungen verrät, den er entführt haben soll. Der Verdächtige verriet das Versteck des Jungen, den er aber bereits drei Tage vorher getötet hatte. Diesen Vorgang protokollierte Daschner, was einer Selbstanzeige gleich kam. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren ein, das nun mit einem Urteil abgeschlossen wurde. Daschner und der Kriminalbeamte wurden zu Geldstrafen verurteilt, die sie aber nicht bezahlen müssen, da sie zur Bewährung ausgesetzt wurden. Das Gericht blieb weit unter den Mindeststrafen und unter den beantragten Strafen der Staatsanwaltschaft, beide Instanzen  sprachen nicht von Folter. Die Verteidigung hält die Beamten für unschuldig. Beide Angeklagten gelten nun weder als vorbestraft noch hat ihr Verhalten größere dienstliche Konsequenzen.

 Es ist eine merkwürdige Tatsache: Der Polizist, der foltern lässt und sich quasi selbst anzeigt, hält sich für unschuldig. Es drängt sich der Verdacht auf, er wollte eine Stimmung in diesem Lande befördern, die Folter wieder erlaubt. Die Aussage seines Verteidigers, die Androhung von Schmerzen sei noch keine Folter, widerspricht sowohl dem Wortlauf  wie dem Geist der einschlägigen Gesetze, Regeln, die jeder Polizeischüler lernen muss, die ein stellvertretender Polizeipräsident nach jahrzehntelangem Dienst ebenso kennt. Daschner hatte Erfolg, wenn er diese Debatte beabsichtigte, der Fall beschäftigte über zwei Jahre die Öffentlichkeit.

 Die bürgerlichen Menschenrechte, so begrenzt sie aus sozialistischer Perspektive auch sind, behindern gelegentlich die Verwertung des Kapitals. Sie sind mit einem Ball vergleichbar, der an einem Berghang liegt. Es gibt nun interessierte Kräfte, die den Menschenrechtsball zumindest lockern wollen, damit er leichter  fällt, wenn die soziale Krise, die von den Neoliberalen forciert wird, sich verschärft und man härtere Mittel braucht, um mögliche Alternativen polizeilich beizukommen. Typisch für diese Tendenz ist der Kommentar von Reinhard Müller auf der Titelseite der FAZ vom 22.12.04, der schon in der Überschrift die begrenzte Macht des Staates beklagt: „Die gefesselte Hand“. Zuerst banalisiert er das Wort „Folter“, um dann das Gerichtsverfahren zu loben, in dem der Begriff ‚Folter’ nicht verwendet wurde. Er verharmlost den „körperlichen Zwang“, indem er wie andere Presseorgane auch diesen mit Polizeieinsätzen gegen Randalierer usw. vergleicht. Bei einem Verhör hat die Polizei jemand vor sich, der bereits als Gefangener wehrlos gemacht wurde. Ebenso unterschlägt die Möglichkeit, dass Polizeibeamte unter bestimmten Umständen gezielt auf Menschen schießen dürfen, die Differenz zu einem in Gewahrsam befindlichen Verdächtigen. Notwehr oder Nothilfe ist nicht dasselbe wie Folter. Auf dem Höhepunkt seines Kommentars ruft er in Form einer Frage zur Legalisierung der Folter auf: „Stimmen vielleicht die Gesetze nicht, welche die Erzwingung einer Aussage verbieten?“ Weiter ist ihm „Menschenwürde“ bloß eine „abstrakte“ Forderung. Diese Relativierung der Menschenwürde ist für ihn „nur eine neue Ehrlichkeit“. Dabei beruft er sich sogar auf das Bundesverfassungsgericht, das angeblich die Wahl eines bestimmten Mittels zum „Lebensschutz“ den staatlichen Organen freigestellt habe. Wie in der Nazipropaganda benutzt er das Schema des schlimmen Einzelfalls, um Folter zu rechtfertigen. „Ein Blick auf den Einzelfall verträgt sich jedenfalls nicht mit einem absoluten Verbot.“ Damit stünde es im Ermessen der Polizei, die Folter anzuwenden, wenn sie es für nützlich hält. Da Gesetze immer „absolut“, d.h. hier auch allgemein gelten, und der Einzelfall unter sie subsumiert wird, hätten sie nach der Argumentation von Müller nur noch den Rang von schönen Werten, wären aber kein verbindliches Recht mehr. Damit ja jeder begreift, was er will, lässt er seiner kriminellen Fantasie freien Lauf: „Wer etwas androht, muß glaubhaft sein. Er muß seine Drohung also auch in die Tat umsetzen. Wer mit dem Daumen anfängt, müßte dann konsequenterweise Gliedmaßen brechen. Das meinte die Anklage mit dem Bild, hier werde die Tür zu einem dunklen Raum aufgestoßen.“ Wenn Müller dann am Schluss doch noch die Kurve kriegt und „gleichwohl gute Gründe für die Strafbarkeit der Angeklagten im Daschner-Prozeß“ anführt, dann heißt das wohl: Noch brauche die BRD keine Erlaubnis zur Folter, aber immerhin hat er die Stimmung mit seinem Kommentar dafür vorbereitet.

Andere Kommentatoren der bürgerlichen Medien gehen da etwas behutsamer vor. Die Formel vom „salomonischen Urteil“ der Neuen  Osnabrücker Zeitung („ein kluges, fast salomonisches Urteil“, zitiert nach der FAZ) gibt sich scheinaufgeklärt, unterstützt aber die Tendenz der FAZ. Diese Formel will sagen, dem Folterverbot ist in dem Daschnerurteil  nachgekommen worden, aber zugleich sind die „ehrenwerten Motive“ Daschners berücksichtigt worden. Eine solche Argumentation läuft darauf hinaus, Folter moralisch zu rechtfertigen, auch wenn sie nach allem Recht (Strafgesetzbuch, Grundgesetz, Europäische Menschenrechtsdeklaration) verboten ist. Zurecht wendet dagegen die liberale Süddeutsche Zeitung ein, dass Daschner bis zuletzt uneinsichtig war, sein Verhalten als richtig rechtfertigte und deshalb Wiederholungsgefahr bestehe, wenn er dazu Gelegenheit bekäme. Der „Halbfreispruch“ eröffnet diese Möglichkeit. Aber selbst die Süddeutsche Zeitung lässt noch ein Hintertürchen offen für legitime Anwendung der Folter, wenn sie schreibt, „daß die Folterandrohung mitnichten Daschners verzweifeltes ‚letzte Mittel’ war“ (zitiert nach der FAZ). Das heißt doch wohl, im Extremfall wäre dieses letzte Mittel erlaubt. Die Sicherung der Staatsraison ist eben für bürgerliche Ideologen ein höheres Recht als das positive Recht der Gesetzbücher. Selbst Aussagen wie: „Auch in Extremsituationen darf der Rechtsstaat nicht von seinen Grundsätzen abweichen“ (NOZ) gelten eben nur für kriminelle Einzelfälle, nicht wenn der Staatsnotstand ausgerufen wird. In Bush’ USA gilt bereits, dass ausländische Kriminelle oder Terroristen „außerhalb des Rechts“ (so der Justizminister) stehen, und entsprechend auch ohne Haftgrund jahrelang gefangen gehalten und auf Nicht-US-Territorium wie Guantanamo auch gefoltert werden können.

 Gegen diese offene und versteckte Tendenz, die Folter akzeptabel zu machen, wollen Anwälte der Opfer zukünftiger sozialer Krisen, etwa Menschenrechtsorganisationen, den Ball der Menschenrechte auf dem abschüssigen Berg der kapitalistischen Gesellschaft fester verankern, seine labile Stellung auf den Schönwetterhang stabilisieren. Nimmt die „Herrenmoral“ (1) der FAZ keine Rücksicht auf mögliche Opfer von Folterpraktiken, weil die herrschenden Kapitaleigner, die sie vertritt, sowieso nicht zu den Betroffenen gehören, so verteidigt z.B. Heiner Bielefeldt, Direktor des deutschen Instituts für Menschenrechte, die „Sklavenmoral“ (2), die für die allgemeine Geltung dieser Menschenrechte eintritt, die den Herrschenden abgetrotzt wurden, um das Betriebsklima in den hochentwickelten Industrieländern nicht zu gefährden. Bielefeldt sagte über das Daschner-Urteil: „Der Ausspruch einer Verwarnung mit Strafvorbehalt wird der Bedeutung des absoluten Folterverbotes als einer Grundlage rechtsstaatlicher Ordnung nicht gerecht.“ (nach: heute.t-online.de/ZDFheute, vom 20.12.04)  Auch die Generalsekretärin von amnesty international, Barbara Lochbihler, kritisierte, dass das Gericht die Tat der angeklagten Polizisten nicht als Folter habe werten wollen: „Das Gericht hat die Chance verpasst, hierzu ein unmissverständliches Wort beizutragen.“ Auch Erinnyen Aktuell kritisiert die provozierende Milde des Urteils, die den Menschenrechtsball eher lockert als ihn zu befestigen. Selbstverständlich hat ein Gericht die Umstände der Tat, die subjektiven Motive der Angeklagten und die Verlogenheit des Opfers einzubeziehen, aber nicht indem sie das geltende Recht des Folterverbots eher lächerlich macht, anstatt es anzuwenden. Wenn die Mindeststrafe ein halbes Jahr Gefängnis ist, dann ist die Geldstrafe, die nicht gezahlt werden muss, eher eine Kumpanei zweier Gewalten, die sich doch nach dem Verfassungsideal gegenseitig kontrollieren sollten.

 Das milde Antifolterurteil im Falle Daschner zeigt aber auch, wie die deutsche Justiz mit zweierlei Maß misst: Als deutsche Pazifisten in Mutlangen eine Sitzblockade machten mit dem ehrenwerten Motiv, die Welt vor einem Atombombenkrieg zu bewahren, also die Auslöschung aller Kinder der Welt zu verhindern, wurden sie teilweise drastisch wegen Nötigung verurteilt, aber gegenüber einem Polizisten, der nötigt, um ein Kind zu retten, wird nur der Zeigefinger erhoben, er geht aus dem Gerichtssaal, ohne vorbestraft zu sein.

 Die allgemeine Tendenz in diesem Lande geht dahin, im Folterverbot nur noch ein Hindernis für die Rettung von Kindern aus der Hand ihrer Schänder und potenziellen Mörder zu sehen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung (angeblich 68 % nach einer ZDF-Repräsentativumfrage), die einmal Opfer fehlender Menschenrechte sein könnte wie 1933, denkt so, weil die Bewusstseinsindustrie in der Hand des Kapitals allgegenwärtig die Gehirne kolonisiert. Mehr denn je gilt: Die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden, die von der FAZ paradigmatisch artikuliert werden.

 Eine zukünftige sozialistische Bewegung ebenso wie die heutigen linken Gruppen müssen die Menschenrechte verteidigen, wenigstens auf der „Sklavenmoral“ bestehen, wenn die Lohnabhängigen nicht wieder der Vernichtung durch Arbeit ausgesetzt werden sollen wie im Frühkapitalismus, wie im KZ des deutschen Faschismus und wie heute in weiten Teilen der „Dritten Welt“. Eine Denunziation jeglicher Moral und jeglichen Rechts, wie sie vom „Gegenstandpunkt“ praktiziert wird, der in diesen Regeln nur eine Ideologie zur Manipulation der Bevölkerung oder eine Herrschaftstechnik sieht, fördert die Entrechtung der Lohnabhängigen – ganz abgesehen von der Perspektivlosigkeit und dem Atavismus (oder „Stalinismus“) der dahinter steht. Wer gegen das Moralgesetz verstößt, schädigt andere Menschen, wer die Folter legitimiert wie der Kommentator der FAZ, der hilft bei der Zerstörung der Hausordnung, die bisher die Konflikte zwischen Privateigentümern und Lohnabhängigen regelte, zugunsten einer unbegrenzten und brutalisierten Herrschaft des Kapitals. Es genügt nicht wie im Gegenstandpunkt (4-03, S. 82 ff.) nur darauf hinzuweisen, dass die kapitalistische Gesellschaft ihre eigenen Rechtsprinzipien aufgibt. Wir haben sie zu verteidigen, auch wenn wir wissen, sie sind immer auch funktional in diesem Herrschaftssystem. Wenn wir die Möglichkeit erlangen, dann haben wir den Menschenrechtsball auf den Gipfel zu verankern, denn diese Rechte sind auch, von dem Eigentumsrecht an Produktionsmitteln abgesehen,  die Errungenschaft eines bürgerlichen Zeitalters, hinter die keine sozialistische Bewegung zurückfallen darf.

 Zur Erinnerung:

 (1)   Herrenmoral ist nach Nietzsche die Moral der „Übermenschen“, der Eliten, die sich nur soweit um das Wohl ihrer Untergebenen scheren, wie es ihren Interessen entspricht. Die Herrenmoral war explizit gegen die kantische Moralphilosophie gerichtet.

(2)   Sklavenmoral ist nach Nietzsche der Versuch der ausgebeuteten Massen, eine allgemeine Moral zu propagieren, die auch die Herrschenden bindet, um deren Herrschaft erträglicher zu machen. Zwar spricht Nietzsche von der Zukunft, die Nazis konnten sich aber problemlos dieser Unterscheidung in ihrer Ideologie bedienen.

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Zum Tod von Professor Doktor Peter Bulthaup  

(12.7.1934 - 29.10.2004)

Nachruf der Zeitschrift für materialistische Ethik  Erinnyen

zum Tod von Peter Bulthaup

Persönliche Erinnerungen von Bodo Gaßmann

Verzeichnis der veröffentlichten Schriften von Peter Bulthaup

Zur Verwaltung des Nachlasses

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Nachruf der Zeitschrift für materialistische Ethik Erinnyen

zum Tod von Peter Bulthaup

Peter Bulthaup verstarb in der Nacht vom 28.10. zum 29.10. 2004. Wir trauern um unseren akademischen Lehrer, Genossen und einen bemerkenswerten Menschen. Peter Bulthaup gehört zur genuin marxistischen Tradition und war Schüler Adornos und Horkheimers, deren Kritische Theorie er gegen ihre Renegaten verteidigte. Er unterstützte alle Initiativen, die Organisationsformen radikaler Aufklärung entwickeln wollten - so wirkungslos gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit sie auch waren. So überließ er den "Erinnyen" Beiträge, die sich unmittelbar in die geistige Auseinandersetzung einmischten, zum Abdruck und war Beirat des "Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover", das seine Schriften herausgab. Sein universitäres Ziel, außer der Sicherung seiner individuellen Reproduktion, war die Bildung akademisch geschulter  Kommunisten. Die Versprechen der bürgerlichen Demokratie und der Autonomie der Universität nahm er beim Wort, ohne Illusionen darüber zu haben, um sie gegen Übergriffe des Staates z. B. gegen die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen. Ideologiekritik war ihm die heutige Gestalt der Aufklärung. So schrieb er in den "Erinnyen" Nr. 2: "Sind die Voraussetzungen des Denkens diesem Denken heteronom, so ist das Verhältnis des autonomen Denkens zu ihnen die Kritik." (S. 64)  Peter Bulthaup folgte der Einsicht Adornos, dass nur extreme Individuiertheit und gebildete Sensibilität zu einer adäquaten Kritik der kapitalistischen Gesellschaft führen kann. Seine Individualität drückte sich z.B. darin aus, dass eine Lehrveranstaltung ausfiel oder verschoben werden musste, weil er eine wichtige Theateraufführung in Zürich besuchte. Wie Adorno sah er in gelungenen ästhetischen Produktionen zumindest die fragmentarische Erfüllung der Autonomie des Individuums verwirklicht oder die antizipierte Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem artikuliert. Da er konsequent an einmal erarbeiteten Einsichten festhielt, akademisch verbreiteten Blödsinn und Irrationalismus kritisierte und an das agitatorische Moment der Wahrheit glaubte,  trug ihm diese Geradlinigkeit die Feindschaft seiner opportunistischen Kollegen ein. Er kritisierte die Vertreter einer inzwischen verfallenen Frankfurter Schule, die es bis zur Transzendentalpolizei, zum Verfassungspatriotismus und sogar zum Berater des Kanzlers der Bosse gebracht haben. Entsprechend wurde er beschimpft als "Objektivist", "Stalinist" und  "Scharfrichter" oder verunglimpft  als "Pol Pot der kritischen Theorie". Dies zeigt aber eher den Zustand ehemals linker Geisteswissenschaftler, als dass es  wahres Denken kennzeichnet. Deshalb nahm er auch den Vorwurf, ein "Orthodoxer" zu sein, wohlwollend an, denn er verstand darunter nicht die blinde Übernahme von Theoremen, wie es das interessierte Vorurteil meint, sondern die rationale Erklärung eines überlieferten Textes und wie es das Wort ausdrückt: die richtige Meinung im Unterschied zur unbegründeten bloßen Meinung. Entgegen den Renegaten, Opportunisten und Wendehälsen unter den ehemaligen Linken, die Theorien danach beurteilen, ob sie der eigenen Karriere nützen, hielt Peter Bulthaup an seiner Einsicht fest, dass eine affirmative Theorie der kapitalistischen Heteronomie nicht nur  zur Zerstörung des Selbstbewusstseins führt, sondern auch die Entwicklung der Naturwissenschaft zur Technologie, die  Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte  bejaht und damit die Selbstliquidierung der Menschen. Deshalb hassten ihn gerade diejenigen, die einst die Intentionen seines Lehrers Adorno teilten, während seine direkten philosophischen Gegner mit ihm durchaus ein kollegiales Verhältnis pflegten. Entgegen seinen Kritikern, die eine auf Marx zurückgehende kritische Theorie der Gesellschaft am liebsten liquidieren möchten, werden die "Erinnyen" an der Intention dieser Theorie festhalten, die eine nicht-affirmativen Analyse des Bestehenden betreibt, um dieses zu verändern. 

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Persönliche Erinnerungen von Bodo Gaßmann

Kennen gelernt habe ich Peter Bulthaup in seiner Sprechstunde um 1975, als er gerade im philosophischen Seminar seine Professur antrat. Ich war mit meinem Germanistikstudium unzufrieden, jeder Dozent oder Buchautor hatte seine eigene Theorie der Literatur, ohne diese wirklich begründet zu haben. Also beschloss ich zu den Philosophen zu gehen, um entscheiden zu können, wer denn nun eine wahre Theorie hat. Professor Bulthaup suchte ich aus, weil er als Vertreter der kritischen Theorie galt, ich eine proletarische Vergangenheit und schon den ersten Band des "Kapitals" gelesen hatte und mich durch Bloch-Texte von den Schlacken des "Marxismus-Leninismus", den meine DDR-Bildung in mir hinterlassen hatte, zu befreien suchte. 

Bulthaup' Reaktion war, als ich begründete, warum ich in seine Veranstaltungen kommen wollte und Bloch erwähnte, dass er seine Finger kreuzte, was heißen sollte: Bloch und die Kritische Theorie stehen konträr zueinander. Seit dieser Zeit saß ich bis etwa Mitte der 90er Jahre in seinen Vorlesungen oder Seminaren. Ich war mit Peter Bulthaup nicht befreundet, aber im gewissen Sinn ein anhänglicher Schüler auch nach meiner Staatsprüfung 1978. 

Diese Prüfung war recht eigenartig. Sie sollte wohl so ablaufen, wie es von Adornos Prüfungen berichtet wird, dass ein wissenschaftliches Gespräch zwischen Prüfling und Prüfer stattfindet quasi wie unter Gleichen, ein Disput um die Sache. Es ging um Descartes "Meditationen". Bei mir diskutierten aber mehr die beiden Prüfer untereinander und ich kam mit längeren Beiträgen nur zu Beginn und am Ende dran. Da ich eine gute Note bekam, störte mich das im Nachhinein nicht, obwohl ich später als Prüfer meine Schüler nicht derart prüfte. Denn auf Grund der offiziellen Hierarchie zwischen Prüfer und Prüfling ist eine symmetrische Kommunikation kaum möglich (ganz abgesehen davon, dass sie von der Bürokratie verhindert wird). 

Peter Bulthaup stand Popularisierungen von Philosophemen recht skeptisch gegenüber, obwohl er selbst sich darin versucht hat. Als ich meine Zeitschrift, die "Erinnyen", 1985 gründete, die auch eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen Philosophie und dem gebildeten Alltagsbewusstsein bauen wollte, war er doch diesem Projekt gegenüber wohlwollend eingestellt. Vor allem wenn es um ideologie-kritische Auseinandersetzungen ging, stellt er mir seine Erklärungen dazu, die er in den Vorlesungen abgegeben hatte, zum Abdruck zur Verfügung. 

Viele der Beiträge in den "Erinnyen" gingen aus seinen Veranstaltungen hervor oder wurden durch sie angeregt. Zu einen Beitrag, einer mimetisch-kritischen Darstellung der Sprache bei Lehrerfortbildungen, die immer die neuesten geistigen Moden draufhaben mussten, bat er mich in sein Sprechzimmer, um die Hintergründe zu erfahren. Und er war ein wenig "enttäuscht", als sich herausstellte, dass ich dieses Begriffsgewusel verdichtet hatte, es also keine Eins-zu-eins-Dokumentation war. 

Man sagt, dass Hegel immer viele Zuhörer hatte, während zu Schoppenhauer, der seine Lehrveranstaltungen zur gleichen Zeit gelegt hatte, nur wenige kamen. Bei Bulthaup war es anders, zunächst kamen viele, etwa um ihre universitären Pflichten zu erfüllen, nach einigen Wochen saßen dann nur noch wenige dort. Die anderen wollten sich wohl nicht der Anstrengung des Begriffs in einem Nebenfach aussetzen und gingen dann lieber. Selbstverständlich war die kritische Theorie unter den Studenten nach dem Abebben der Studentenbewegung in den 70er Jahren immer weniger populär. Für von Bulthaup bevorzugte Themen wie Kants Philosophie und den deutschen Idealismus interessierten sich mehr die Studenten, die wirklich ihr Fach studieren wollten. Einmal, es war am Ende des Semesters, wurde von ihm gefragt, wer denn einen Schein machen wolle, da stellte sich heraus, dass die meisten bereits ihr Examen gemacht hatten. Diese Studenten waren nun aber die dankbarsten, denn sie besuchten seine Seminare allein aus Interesse an der dargestellten Sache. So habe auch ich etwa 40 Semester Philosophie mal mehr mal weniger intensiv studiert. 

Einmal lernte ich einen katholischen Theologen kennen, der das Gegenteil von Peter Bulthaup war. Meist hatte dieser als Marxist eine Fliege umgebunden, während der katholische Theologe, der die kritische Theorie bekämpfte, nur im T-Shirt  zu seinen Veranstaltungen kam. Da standen sich die kleidungsmäßige Distanz bei Bulthaup, um die Würde der akademischen Bildung und der wissenschaftlichen Theorie zu betonen, hier die bekleidete Anbiederung an die casual clothes der Studenten, um den akademischen Irrationalismus populär zu machen, gegenüber. Nur einmal begegnete ich Peter Bulthaup ohne Fliege oder Schlips, und zwar in der Innenstadt von Hannover. Er kam wohl gerade aus einem Restaurant und man sah es ihm an, dass es ihm gar nicht recht war, derart seinem Studenten zu begegnen. Meine Frau, die ich einige Male mit in eine Vorlesung nahm, fand es vor allem erotisch, wenn er beim Dozieren sein Bein auf den Stuhl neben das Rednerpult stellte. 

Peter Bulthaup hat öfter erzählt, wie er zur Philosophie kam. In seinem ursprünglichen Fach, der Chemie, gab es prinzipiell nicht Neues mehr zu entdecken, bestenfalls noch neue Verbindungen. Nach dem Grundsatz: "Prinzip erkannt - langweilig",  hat er sich auf die Philosophie gestürzt, die genug offene Probleme auszutragen hat. Entsprechend fand ich seine Vorlesungen auch nie langweilig - im Gegensatz zu unbedarften Studenten -, weil er die Probleme der Philosophie erörterte, quasi geistige Abenteuer bot. Das hinderte ihn nicht auch mal einen Witz zu erzählen: Ein Philosoph und ein Physiker warten auf den Zug und gehen, um die Langeweile zu überspielen, in ein Stripteaselokal. Kommt die erst Frau und zieht sich aus, kommt die zweite Frau und zieht sich aus und als die dritte Frau sich ausziehen will, sagt der Physiker zum Philosophen: Lass uns gehen, Prinzip erkannt ...

Eine Anekdote von Peter Bulthaup erzähle ich immer meinen Schülern, um sie zum gründlichen Lesen anzuregen. Als er sich die "Logik" von Hegel zum ersten Mal vornahm, schaute seine Frau, die in ihre Zahnarztpraxis gehen wollte, über seine Schulter und sah, dass ihr Mann noch auf der ersten Seite war. Als sie nach acht Stunden nach Hause kam, saß ihr Mann immer noch mit Hegels "Logik" an derselben Stelle. Er hatte immer noch die erste Seite aufgeschlagen und las darin. Philosophische Texte, allgemein gesprochen gehaltvolle Texte erschließen sich nicht dem nervösen Herunterlesen, evtl. sogar noch mit Diagonaltechnik.

Wie kann ein Mensch Einfluss auf einen anderen haben, dem man einmal in der Woche während der Semesterzeit sieht? Zunächst einmal durch einen anderen: Peter Bulthaup war länger erkrankt und Ernst Theodor Mohl, mit dem er zusammen ein Seminar über die Stimmigkeit der Marxschen Reproduktionsschemata machte, brach die Veranstaltung ab mit dem Argument, dass nicht jeder Mensch ersetzbar sei - entgegen dem kapitalistischen Arbeitsmarkt. Dieser Abbruch, diese Konsequenz von Mohl hat mich damals sehr beeindruckt.

Wenn ich heute einen Text formuliere, einen Gedanken zu Papier bringe, ertappe ich mich manchmal dabei, wie eine Stimme zu mir sagt, das ist zu seicht, das ist unlogisch, dieses Wort ist ideologisch ... Und wenn ich mich dann fragte, wer da in mir redet, dann ist das Peter Bulthaup oder zumindest sein philosophisches Ethos. Nicht dass ich immer mit seinen Ansichten übereinstimmte, ist hier wichtig, sondern seine Stimme ist sozusagen zu meinem theoretischen Gewissen geworden auch da, wo ich von seiner Philosophie abweiche. Ich habe bisher in meinem Leben keinen Menschen kennen gelernt, der so sehr die Einheit von Philosophieren und Existieren  verkörperte - etwas, was unter heutigen Bedingungen eigentlich gar nicht möglich ist. 

Was bleibt von dem Menschen Peter Bulthaup? Er hat gekämpft, geliebt, gelitten, ein bisschen provisorisches Glück gehabt - doch nun, wo er tot ist, spielt das alles für ihn keine Rolle mehr. Ihm nützen diese Erinnerungen nichts, als Toter geht ihn das nichts mehr an. Mögen die Leute um ihn trauern, heimlich froh sein, dass er weg ist oder gleichgültig noch nicht einmal seinen Tod zur Kenntnis nehmen, wie die Medien in Hannover  - Peter Bulthaup ist tot. Alles, was jetzt mit ihm und um ihn geschieht, ist einzig Sache der Lebenden. Selbst die Erinnerung, die andere über ihn haben werden, an die er im Leben vielleicht einmal gedacht haben mag, diese Möglichkeit an die Erinnerung zu denken gibt es für ihn nicht mehr. Uns bleibt angesichts des Todes, unsere Zeit sinnvoll zu verbringen, vielleicht im Kämpfen ein wenig Glück zu empfinden, die Melancholie angesichts des Todes zu sublimieren und in Produktionen umzusetzen ...

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Verzeichnis der veröffentlichten Schriften 

von Peter Bulthaup (1934 - 2004)

Der Philosoph Peter Bulthaup hat nicht, wie es im akademischen Betrieb nach dem Motto publish or perish üblich ist, sehr viel veröffentlicht. Dafür haben seine philosophischen Texte einen intellektuellen Gehalt, an dem sich die gegenwärtigen philosophischen Ideologeme blamieren. Die Reihenfolge ist chronologisch, die Reihe seiner Aufsätze bis 1998 ist dagegen nicht einzeln ausgewiesen, sondern in dem Sammelband "Gesetz der Befreiung" enthalten. Außerdem kursieren unter seinen Studenten Mitschriften von Vorlesungen, die hoffentlich bald veröffentlicht werden. 

Sein wichtiger Beitrag zur Philosophie der Naturwissenschaften: 

- Peter Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Hrsg.v. Gesellschaftlichen Institut Hannover. 2. Auflage, Lüneburg 1996 (zu Klampen)  (1. Auflage Suhrkamp-Verlag Ffm, 1973).

- Peter Bulthaup: Parusi, in: Materialien zu Benjamins Thesen 'Über den Begriff der Geschichte'. Beiträge und Interpretationen. Hrsg. v. Peter Bulthaup, Ffm. 1975 (Suhrkamp).

- Peter Bulthaup: Thesen zur Diskussion über den Beitrag der Kritischen Theorie zur Geschichtsphilosophie am Beispiel der geschichtsphilosophischen Thesen W. Benjamins, in: Erinnyen Nr. 2, Garbsen 1986.

- Peter Bulthaup: Ernstfall und Allotria. Überlegungen zum Verhältnis von Reflexion und Kunst, in: Musik-Konzepte 63/64. Theodor W. Adorno. Der Komponist. Hrsg.v. H.-K. Metzger u. Rainer Riehn. edition text + kritik, München 1989.

- Erklärung von Prof. Dr. Peter Bulhaup zur Auflösung der "Marxistischen Gruppe", in: Erinnyen Nr. 7, Garbsen 1992.

- Eine Anmerkung von Peter Bulthaup zu Oskar Negt, in: Erinnyen Nr. 7, Garbsen 1992. 

- Peter Bulthaup: Von der Freiheit im ökonomischen Verstande. I. Die Metaphysik von  Δ G, II. Über einige Schwierigkeiten, die Förderung des technischen Fortschritts aus ökonomischem Zwang zu bestimmen, in: Das Automatische Subjekt bei Marx. Studien zum Kapital. Hrsg.v. Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg 1998 (zu Klampen).

Gesammelte Aufsätze aus mehreren Jahrzehnten: 

- Peter Bulthaup: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte. Hrsg.v. Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg 1998 (zu Klampen).

- Peter Bulthaup: ... daß Gott selbst gestorben ist. Hegels Religionskritik, in: Wider den absoluten Anspruch, Gerd-Günther Grau zum 75. Geburtstag hrsg. v. Friedrich Wilhelm Korff, Würzburg 1998.

- Peter Bulthaup: Zweckmäßigkeit, absoluter Zweck, Begriff. Kritik der Hegelschen Deduktion des Begriffs, in: Andreas Knahl, Jan Müller, Michael Städtler, u. a.: Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart. Hrsg. v. Gesellschaftlichen Institut Hannover, in Zusammenarbeit mit dem ISTITUTO ITALIANO PER GLI STUDI FILOSOFICI; Neapel, Lüneburg 2000 (zu Klampen).

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Zur Verwaltung des Nachlasses

durch das "Gesellschaftswissenschaftliche Institut Hannover"

Der wissenschaftliche Nachlass von Peter Bulthaup wird zur Zeit durch das GI Hannover im Zusammenhang mit der Landesbibliothek ausgewertet und geordnet, um ihn einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der folgende Link verweist auf die Seite des Instituts.

Nachlassverwaltung

 

 

Impressum

Copyright © Alle Rechte liegen bei den Erinnyen. Näheres siehe Impressum.
Datum der letzten Korrektur: 25.09.2008